von Meike Simpson
Seit ein paar Monaten arbeite ich mit Menschen, die langzeitarbeitssuchend sind.
Der Begriff kommt von außen, aus der Gesellschaft. So würde sich wohl niemand selbst bezeichnen. Und wenn ich so darüber nachdenke, was es bedeutet, als langzeitarbeitssuchend tituliert zu sein, denke ich an Dinge wie: versagt, zu doof, nicht ausreichend, gescheitert, ohne Chance, ganz unten, nicht gut genug, ungewollt, unnormal, asozial …
Und ich kann mir nur ansatzweise vorstellen, wie es sich anfühlen muss, langzeitarbeitssuchend zu sein, also ein Adjektiv, nicht mal ein Hauptwort. Hier ist mein Bericht darüber, wie ich mich fühle, wenn ich mit denen arbeite, die selbst keine Arbeit haben.
In meinem Coaching-Büro sitzt mir ein Mann auf dem Sessel gegenüber, der mir nicht in die Augen schaut, wenn er oder ich sprechen. Höchstens flüchtig. Das irritiert mich etwas, denn ich kann das gut mit dem in-die-Augen-Schauen und mag das auch. Weil ich finde, der Blick in die Augen verstärkt die Bindung zum Gesprächspartner. Dieser Mann aber schaut immer wieder gleich weg.
Wir kennen uns noch nicht, das heute ist unser erster Termin. Er wurde zu mir geschickt.
Für ein Langzeit (!) -Coaching. Mit dem (Langzeit-) Ziel, sich in den ersten Arbeitsmarkt zu (re-) integrieren.
Der Mann fühlt sich sichtlich unwohl, verändert ständig seine Sitzposition, spielt an seinen Fingern herum, zupft an seiner Kleidung. Er wirkt angespannt und irgendwie so, als sei er vor mir auf der Hut. Er blickt immer wieder mal von mir zur Tür, vielleicht überlegt er, ob er einfach aufstehen und gehen soll.
Ich frage mich, ob ich etwas tun kann, damit er sich entspannt. Mir fällt aber nichts ein, außer dass ich ihm zugewandt und aufmerksam bleibe- für ihn und für mich. Dann fällt mir ein Mantra aus der Coaching-Ausbildung ein: Ansprechen, was Du gerade wahrnimmst.
Ich schaue ihn an; es ist ihm offensichtlich sehr unangenehm, hier mit mir zu sitzen.
Also sage ich: „Ich habe das Gefühl, es ist Ihnen unangenehm, hier zu sein.“, möglichst unbestimmt also, um das Feld breit zu machen.
Er guckt mir direkt in die Augen, dann sofort wieder weg, er ist mindestens überrascht, vielleicht sogar erschrocken.
„Nein, nein. Das ist es nicht.“ Ich warte. Er auch. Ich warte weiter, auch wenn es mir schwer fällt. Ich würde gerne etwas Beruhigendes oder Ermunterndes oder sogar Ablenkendes sagen, aber ich weiß, dass Schweigen meinem Gegenüber helfen kann, Raum für seine Gedanken und Gefühle zu haben und sich zu sammeln.
Und das tut er und sagt, aus der Hüfte und mit ziemlicher Vehemenz: „Natürlich ist es mir peinlich, hier zu sitzen. Was glauben Sie denn? Ist ein Scheißgefühl, ein Looser zu sein und das jetzt auch noch vorgeworfen zu kriegen.“
Das sitzt. Bei uns beiden. Wir gucken uns also an, beide überrascht von den Worten, die da zwischen uns in der Luft hängen, sich langziehen, größer werden.
Mein erster Impuls: Scheiße - Was? Wann habe ich ihm das denn vorgeworfen?
Mein zweiter, besonnenerer, für den ich echt dankbar bin: Klar, so würde ich mich auch fühlen.
Und das sage ich dann auch.
Wir entspannen uns. Der Druck scheint erstmal raus zu sein.
Um ihm und mir Zeit zu geben, das sacken zu lassen, frage ich ihn, ob er auch einen Kaffee haben möchte, stehe auf, öffne das Fenster, stelle den Wasserkocher an. Als ich ihn fragend ansehe, merkt er wohl, dass ich ihm gerade etwas zu trinken angeboten habe und sagt: „Oh. Äh. Wenn das ginge, wäre das wirklich toll. Äh, echt. Danke. Danke schön. Das ist nett von Ihnen“, eine ganz schön lange Antwort auf eine kurze Frage. Der Mann sieht völlig perplex aus, irgendwie so, als könne er es kaum glauben, dass ihm jemand ein Getränk anbietet.
Diese Antwort war jedenfalls kein Automatismus, und ich fange fast an zu heulen, weil mich so trifft, dass jemand so reagieren kann, dem doch einfach nur ein Kaffee angeboten wurde. Etwas Selbstverständliches. Alltägliches. Normales. Soziales…
Ich fühle Demut. Und Hochachtung für diesen Mann, der trotzdem hierher, zu mir, gekommen ist. Und auch das sage ich.
Er ist wieder überrascht, und ich hoffe, dass er nicht denkt, dass das alles eine Masche von mir ist. Gerade überlege ich, ob ich das auch wieder sagen soll und hole Luft, aber er ist schneller und fängt an zu sprechen.
Über sich. Warum er keine Arbeit hat. Was er damals, als er jung war und noch normal, gelernt hat und was nicht. Wann er falsch abgebogen ist aus seiner Sicht. Und was dann alles kam.
Ich brauche überhaupt nichts mehr machen, ich sitze nur da, höre ihm zu, wir nippen beide ab und zu an unserem Kaffee. Gelegentlich stelle ich eine Verständnisfrage oder stolpere über Sätze wie „Naja, ist ja auch egal“ und hake da also nach, was egal ist und warum er das sagt.
Wir sind so ins Gespräch vertieft, dass eine Kollegin, die einen Anschlusstermin mit mir hat, klopft und ihren Kopf hereinsteckt.
Mein Klient sagt: „Oh, Entschuldigung“, blickt auf die Uhr, sieht mich an und fragt: „Wars das schon für heute?“, wartet nicht auf die Antwort, trinkt seinen kalten Kaffee aus (!), steht auf und sagt: „Ich hoffe, ich habe jetzt nicht zu viel geredet.“
Ich schäme mich. Dafür, dass jemand in unserem Land, in unserer Gesellschaft, so klein geworden ist, dass er sich für sich selbst entschuldigt und sich nicht traut, Raum einzunehmen für sich.
Und ich fühle große Dinge: einen Aufruf, nein, einen Aufschrei nach Revolution, nach Gerechtigkeit und Gleichheit, nach Menschlichkeit und sozialer Verantwortung.
Ich fühle Überforderung: Wie soll das alles gehen, wie soll ich das alles schaffen? Wo soll ich anfangen? Ich reiche nicht aus, ich bin ein paar Millionen zu wenig, ich kann nichts ausrichten. Und dann, zart: Der kommt wieder. Mit dem einen hier kann ich anfangen, und er mit mir.
Und darum geht’s doch schließlich, oder?
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Jeanne Thon (Montag, 21 Juni 2021 10:44)
Liebe Meike, ich bin sehr berührt von deinem Erleben und deiner Liebe!